Dark Water von K. Suzuki

Leseprobe: Dark Water von Kôji Suzuki

Leseprobe: Dark Water von Kôji Suzuki

Immer wenn ihr Sohn mit seiner Familie aus Tokio zu einem längeren Besuch da war, pflegte Kayo frühmorgens mit ihrer Enkelin Yuko spazieren zu gehen. Ihr Ziel war stets das Kap Kannon an der östlichsten Spitze der Miura-Halbinsel. Die Runde um die Landzunge herum und zurück nach Hause war keine drei Kilometer lang und damit genau das Richtige für einen gemütlichen Spaziergang. Wenn sie die große Aussichtsplattform erreichten, von der aus man einen fantastischen Blick hatte, zerrte Yuko stets ungeduldig an der Hand ihrer Großmutter und bestürmte sie mit Fragen. Dabei zeigte sie auf alles weit draußen auf dem Meer, das ihre Neugier weckte. Kayo wimmelte ihre Enkelin nicht ab, sondern gab geduldig Antwort auf alles, was sie wissen wollte.
Yuko war am Vortag angekommen, um einen Teil der Sommerferien bei ihrer Großmutter zu verbringen. Sie erklärte, sie müsse erst in einer Woche nach Hause zurückfahren. Kayo freute sich riesig, so viel Zeit mit ihrer Enkelin verbringen zu dürfen.
Die entferntesten Ecken der Bucht von Tokio jenseits des Ballungsgebiets von Tokio und Yokohama lagen im Dunst. Obwohl man nur selten klare Sicht über die ganze Bucht hatte, wurde rasch deutlich, dass sie größer war, als man auf den ersten
Blick glaubte. Die Berge der Boso-Halbinsel jenseits des Uraga-Sundes dagegen waren deutlich zu sehen – hohe, scharfe Umrisse, die vom Nokogiriyama bis zum Kanozan reichten.
Yuko ließ das Geländer los und streckte die Arme aus, als wollte sie in der Luft irgendetwas fangen. Eine lange, schmale Sandbank erstreckte sich vom Kap Futtsu auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht ins Meer. Man hatte wirklich das Gefühl, sie berühren zu können, wenn man nur die Hand weit genug ausstreckte.
Kap Futtsu und Kap Kannon markierten quasi die Einfahrt zur Bucht von Tokio. Zahlreiche Frachtschiffe pendelten in zwei getrennten Fahrrinnen zwischen den beiden ins Meer ragenden Landzungen hin und her. Yuko winkte den Frachtern zu, die von ihrem Platz auf der Aussichtsplattform aussahen wie Spielzeugboote. An den Stellen mit starker Strömung waren die Fahrrinnen mit gestreiften Bojen markiert. Jede Flut füllte die Bucht mit Wasser vom offenen Meer, das sich mit der Ebbe wieder zurückzog. Aus diesem Grund heißt es wahrscheinlich so oft, dass der gesamte Müll aus der Bucht von Tokio an Kap Kannon und Kap Futtsu angespült wird. Man stelle sich die Bucht von Tokio wie ein riesiges Herz vor, an dem die Landzungen zu beiden Seiten genau wie Herzklappen funktionieren und den Unrat herausfiltern, der durch den sanften Strom der Gezeiten im Wasser herumgetrieben wird.
Die Ähnlichkeit geht über den Kreislauf des Meerwassers hinaus: Die Flüsse Edo, Ara, Sumida und Tama dienen als Blutgefäße, die die Bucht von Tokio mit frischem Wasser versorgen. Unter dem angespülten Treibgut findet sich alles Mögliche, von alten Autoreifen, Schuhen und Kinderspielzeug bis hin zu den Trümmern leckgeschlagener Fischerboote und hölzernen Türschildern mit Adressen aus weit entfernten Städten wie Hachioji. Viele Menschen wundern sich darüber. Wie um alles in der Welt gelangen all diese Sachen ins Meer? Die Liste ließe sich endlos fortsetzen: Bowlingkegel, Rollstühle, Trommelschlägel und sogar Damenunterwäsche.
Jedes Stück Treibgut, das auf die Küste zuschwamm, faszinierte Yuko.
Auch die Fantasie von Strandgutsammlern wird von den angespülten Dingen angeregt und treibt mitunter seltsame Blüten. So kann man sich beim Anblick eines auf dem Wasser schaukelnden Motorradbeiwagens gut einen heißen Ofen vorstellen, der einen Pier entlangrast und schließlich ins Meer stürzt. Eine Plastiktüte voller gebrauchter Spritzen dagegen riecht womöglich nach kriminellen Machenschaften. Jedes Stück Treibgut, das an Land gespült wird, hat seine eigene Geschichte. Jeder, der auf ein besonders faszinierendes Exemplar stößt, täte gut daran, noch einmal zu überlegen, bevor er es aufliest, denn sobald solche Fundsachen in unachtsame Hände geraten, werden ihre verborgenen Geheimnisse gelüftet. Das ist gut und schön, wenn dabei eine harmlose, herzerwärmende Geschichte herauskommt. Dagegen kann es einen ganz schön durcheinander bringen, wenn etwas so Grauenhaftes zutage tritt, dass einem das Blut in den Adern gefriert.
Wenn du das Meer liebst, ist das erst recht ein Grund, einen kühlen Kopf zu bewahren. Du hebst etwas auf, das wie ein Gummihandschuh aussieht, nur um festzustellen, dass es in Wirklichkeit eine abgehackte Hand ist. Nach so einem Erlebnis willst du vielleicht nie wieder am Strand spielen. Wie sollst du jemals vergessen, was für ein Gefühl es war, als dir dämmerte, dass du gerade eine abgehackte Hand aufgelesen hattest?
Mit derartigen beiläufigen Bemerkungen pflegte Kayo ihrer Enkelin Angst einzujagen. Jedes Mal, wenn Yuko darum bettelte, dass ihre Großmutter noch eine ihrer Gruselgeschichten erzählte, erfand Kayo ein Abenteuer zu einem Stück Treibgut. Sie wusste, dass Yuko in der kommenden Woche wahrscheinlich jeden Tag um eine neue Gruselgeschichte bitten würde, sobald sie zu ihrem Morgenspaziergang aufbrachen. Doch Kayo kannte eine Menge Geschichten – und was für welche! Jener überraschende Fund, den sie vor zwanzig Jahren eines Morgens am Strand gemacht hatte, war wie ein Zündfunke für ihre Fantasie gewesen und es bis heute geblieben. Seither konnte sie um jedes beliebige Stück Treibgut, das am Ufer schwamm, bizarre Geschichten erfinden.
“Es war bestimmt schon einmal ein Schatz dabei, oder?” Yuko wollte wissen, ob jemals etwas richtig Wertvolles angespült worden war, nicht nur die üblichen gruseligen Sachen. Alle möglichen Schiffe, von winzigen Booten bis hin zu riesigen Frachtern, pflügten eifrig durch die schmalen Fahrrinnen unten in der Bucht. Yuko war der Gedanke gekommen, dass doch sehr gut einmal eine Schatztruhe oder Ähnliches aus einer der Kabinen gefallen sein konnte.
“O ja, das wird wohl so sein”, orakelte Kayo gedehnt.
“Das will ich”, verlangte Yuko, machte allerdings keinerlei Anstalten zu erklären, was sie damit meinte.
“Du könntest schon einen Schatz haben”, erwiderte Kayo. Es war klar, dass mit diesem Angebot eine Bedingung verknüpft war.
“Wenn was?”
“Wenn du mir nächste Woche auf meinen Spaziergängen Gesellschaft leistest.”
“Ja klar, mache ich.”
“Dann bekommst du deinen Schatz an dem Morgen, bevor du wieder nach Tokio fährst.” “Versprochen?”
Um den Handel zu besiegeln, leisteten sie einen Schwur, indem sie sprachen: “Ehrenwort, Hand aufs Herz.”
Kayo wusste nicht genau, ob Yuko mit dem Schatz, den sie für sie bereithielt, zufrieden sein würde.

Quelle: http://www.amazon.de/Dark-Water-Koji-Suzuki/dp/3770461207 28.8.2013

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