Medea. Stimmen von C. Wolf

Inhaltsangabe und Beschreibung der Personen: Medea. Stimmen von Christa Wolf

Inhaltsangabe und Beschreibung der Personen: Medea. Stimmen von Christa Wolf
In Christa Wolfs Roman „Medea. Stimmen“ aus dem Jahr 1995 geht es um die kolchische Königstochter Medea. In der ersten der elf Stimmen erzählt Medea, wie sie mit ihrem Mann Jason nach Korinth kam und welche Probleme die beiden hatten, in Korinth akzeptiert zu werden. Der Roman beginnt zu einem Zeitpunkt als Medea bereits von Jason getrennt lebt. Sie lebt mit ihren beiden Söhnen, Meidos und Pheres, und ihrer Vertrauten Lyssa außerhalb der Palastmauern. Medea machte sich die Korinther zu Feinden, weil sie in der Stadt aufrechter ging als die korinthischen Stadtbewohner, sie verlangte für ihre Dienste als Heilerin keine Gegenleistung und versuchte hinter das Geheimnis der Stadt zu gelangen. 
Diese Bestrebungen riefen den ersten Astronom des Königs, Akamas, und dessen Helfer, Turon, auf den Plan, die zusammen mit Agameda, Medeas ehemalige Schülerin, und Presbon versuchen Medea Straftaten anzuhängen, die sie nicht begangen hat. 
Jason hat sich inzwischen im Palast eingelebt und plant, die zweite Königstochter von Korinth, Glauke, zu heiraten, obwohl er noch mit Medea verheiratet ist und sie immer noch hin und wieder besucht.
Glauke ist krank und beobachtet auf ihre eigene Art, was im Palast vor sich geht. Sie liebt Jason, ist aber sehr unsicher, da sie weiß, dass sie auf Männer kaum anziehend wirkt. 
Ihr Vater, König Kreon von Korinth, gab die Geschäfte an Akamas, ohne es wirklich bemerkt zu haben, da dieser ihm vorgaukelt, dass immer noch Kreon selbst alle Entscheidungen treffe. 
Königin Merope ist sehr in sich zurückgezogen, da ihre erstgeborene Tochter Iphinoe vor einigen Jahren geopfert wurde. Seit dem lebt sie in ihren eigenen Gemächern und kommt nur noch zu wichtigen Anlässen heraus, aber auch dann spricht sie kein Wort.
Lyssa versucht, Medea vor Agamedas, Presbons und Akamas’ Machenschaften zu warnen, allerdings kann Medea nicht glauben, dass es Menschen gibt, die ihr so viel Böses wünschen. 
Leukon ist der zweite Astronom des Königs und ein Vertrauter Medeas. Er weiß, was gegen Medea geplant wird, versucht Medea auch zu warnen, entzieht sich aber der Verantwortung in dem er behauptet, dass er nichts am Ausgang der Ereignisse hätte verhindern können.
Oistros ist Medeas Geliebter und versucht, sie zu unterstützen. Er glaubt immer an ihre Unschuld und rettet sie sogar vor einer Meute, die sie verfolgt. Medea fühlt sich in seiner Gegenwart sicher.
Arethusa ist eine Kreterin und hat eine Beziehung zu dem Mann, der immer nur „Der Alte“ genannt wird, außerdem hat sie eine weitere Beziehung zu Leukon. Arethusa ist eine gute Freundin für Medea und hat einen positiven Einfluss auf Leukon. 
Am Ende wird Medea der Prozess gemacht, und sie wird ohne ihre Söhne aus der Stadt vertrieben. Jahre später erfährt sie von Arinna, Lyssas Tochter, dass ihre Söhne kurz nach ihrer Verbannung getötet wurden, auch das wurde Medea in die Schuhe geschoben.




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Medea. Stimmen von C. Wolf

Rezension: Medea. Stimmen von Christa Wolf

Rezension: Medea. Stimmen von Christa Wolf

Zur Beschreibung des Inhalts von Christa Wolf siehe oben.
Christa Wolf beschreibt in ihrem historischen Roman das Leben der Medea aus einer eher feministischen Sicht. So hat Wolf nicht nur Medea von der Schuld der Kindsmörderin freigesprochen, sondern auch das Motiv, aus dem Medea mit Jason ihre Heimat verließ, geändert. In Euripides Fassung verließ Medea Kolchis aus Liebe zu Jason, in Christa Wolfs Fassung verlässt Medea die Stadt, weil sie mit der Politik ihres Vaters nicht mehr Leben kann.
Die Multiperspektivität versetzt den Leser in die Lage, die Meinungen und Beweggründe einiger Hauptpersonen zu ergründen. Medea, Jason, Glauke, Leukon, Agameda, Akamas schildern die Geschehnisse jeweils aus ihrer Sicht der Dinge, und nicht in einer chronologischen Reihenfolge, sondern jeweils immer beginnend an einem bestimmten Ereigniss. So ergeben sich im Laufe der Stimmen viele Puzzelteile, die sich erst nach und nach zu einem Gesamtbild zusammensetzen. Aber gerade das macht das Buch so lesenswert. Durch die Multiperspektivität kann man das Verhalten von nahezu jedem nachvollziehen, weil man sich in die Person hineinversetzt und deshalb erkennt, dass das Verhalten der Personen für sie sinnvoll erscheint.
Wir haben das Buch damals in der Schule gelesen und mir hat es ausgesprochen gut gefallen, gerade weil Christa Wolf nicht nur einen eigenen Erzählstil hat, sondern auch ein besonderes Medium – die Multiperspektivität – verwendet.
Ich kann Christa Wolfs „Medea. Stimmen“ jedem empfehlen, da es eine ansprechende Geschichte aus der Vergangenheit, in ein neues Licht hüllt und diese mit Elementen aus der nicht allzu fernen deutschen Vergangenheit verknüpft und damit auch politisch interessant ist.

Medea. Stimmen von C. Wolf

Leseprobe: Medea. Stimmen von Christa Wolf

Leseprobe: Medea. Stimmen von Christa Wolf

Alles, was ich begangen habe bis jetzt,
nenne ich Liebeswerk . . .
Medea bin ich jetzt,
gewachsen ist meine Natur durch Leiden.
Seneca, ›Medea‹
Medea
Auch tote Götter regieren. Auch Unglückselige bangen um ihr Glück. Traumsprache. Vergangenheitssprache. Hilft mir heraus, herauf aus dem Schacht, weg von dem Geklirr in meinem Kopf, warum höre ich das Klirren von Waffen, kämpfen sie denn, wer kämpft, Mutter, meine Kolcher, höre ich ihre Kampfspiele in unserem Innenhof, oder wo bin ich, wird denn das Geklirr immer lauter. Durst. Ich muß aufwachen. Ich muß die Augen öffnen. Der Becher neben dem Lager. Kühles Wasser löscht nicht nur den Durst, es stillt auch den Lärm in meinem Kopf, das kenn ich doch. Da hast du neben mir gesessen, Mutter, und wenn ich den Kopf drehte, so wie jetzt, sah ich die Fensteröffnung, wie hier, wo bin ich, da war doch kein Feigenbaum, da stand doch mein geliebter Nußbaum. Hast du gewußt, daß man sich nach einem Baum sehnen kann, Mutter, ich war ein Kind, fast ein Kind, ich hatte zum erstenmal geblutet, aber ich war doch nicht deswegen krank, du hast doch nicht deswegen bei mir gesessen und mir die Zeit vertrieben, den Kräuterumschlag auf Brust und Stirn gewechselt, mir meine Hände dicht vor die Augen gehalten und mir die Linien in den Handflächen gezeigt, zuerst die linke, dann die rechte, wie verschieden, du hast mich gelehrt, sie zu lesen, oft habe ich mich ihrer Botschaft entzogen, habe die Hände zu Fäusten geballt, habe sie ineinander verschlungen, habe sie auf Wunden gelegt, habe sie zu der Göttin aufgehoben, habe das Wasser vom Brunnen getragen, das Leinen mit unseren Mustern gewebt habe sie in den warmen Haaren der Kinder vergraben. Einmal, Mutter, in einer anderen Zeit, habe ich mit meinen beiden Händen zum Abschied deinen Kopf umspannt, seine Form ist als Abdruck in meinen Handflächen geblieben, auch Hände haben ein Gedächtnis. Jeden Flecken von Jasons Körper haben diese Hände abgetastet, erst heute nacht, aber ist denn jetzt Morgen, und welcher Tag. Ruhig. Ganz ruhig, eins nach dem anderen. Besinn dich. Wo bist du. Ich bin in Korinth. Der Feigenbaum vor der Fensteröffnung der Lehmhütte war mir ein Trost, als sie mich aus dem Palast des Königs Kreon wiesen. Warum? Das kommt später. Ist das Fest vorüber, oder muß ich noch hingehen, wie ich es Jason schließlich zugesagt habe. Du kannst mich jetzt nicht im Stich lassen, Medea, von diesem Fest hängt viel ab. Nicht für mich, habe ich ihm gesagt, und das weißt du auch, aber meinetwegen, ich komme, habe ich zu ihm gesagt, aber das ist das letzte Mal. Du hast mir damals jene winzige Linie in der linken Hand mit dem Fingernagel nachgezogen, du hast mir gesagt, was es bedeuten würde, wenn sie irgendwann einmal die Lebenslinie kreuzte, du hast mich gut gekannt, Mutter, lebst du noch. Sieh her. Da kreuzt diese winzige Linie, die sich vertieft hat, die andere. Paß auf, hast du gesagt, Hochmut läßt dein Inneres erkalten, mag ja sein, aber Schmerz, Mutter, Schmerz hinterläßt auch eine wüste Spur. Wem sage ich das. Wie dunkel es auch gewesen ist, als wir an Bord der »Argo« gingen, deine Augen habe ich gesehen und nicht vergessen können, ihr Blick brannte mir ein Wort ein, das ich vorher nicht kannte: Schuld. Jetzt klirrt es wieder, es ist das Fieber, aber mir ist doch, als hätte ich an dieser Tafel gesessen, nicht gerade neben Jason, war das gestern, bleib hier, Mutter, woher kommt diese Müdigkeit, ich will nur noch ein wenig schlafen, gleich steh ich auf, ich ziehe das weiße Kleid an, das ich selbst gewebt und genäht habe, wie du es mir beigebracht hast, dann gehen wir wieder gemeinsam durch die Gänge unseres Palastes, und ich werde froh sein, wie ich es als Kind gewesen bin, wenn du mich an die Hand genommen und auf den Innenhof geführt hast, zu dem Brunnen in der Mitte, weißt du, daß ich nirgendwo einen schöneren angetroffen habe, und eine der Frauen zieht uns den Holzeimer hoch, und ich schöpfe das Quellwasser und trinke, trinke und werde gesund. Es ist nämlich so: Entweder ich bin von Sinnen, oder ihre Stadt ist auf ein Verbrechen gegründet. Nein, glaub mir, ich bin ganz klar, mir ist ganz klar, was ich da sage oder denke, ich habe ja den Beweis gefunden, mit diesen Händen habe ich ihn betastet, ach, Hochmut ist es nicht, was mich jetzt bedroht. Ich bin ihr doch nachgegangen, der Frau, vielleicht wollte ich auch Jason eine Lehre erteilen, der geduldet hatte, daß man mich an das Ende der Tafel zwischen die Dienstleute setzte, richtig, das habe ich nicht geträumt, das war gestern. Jedenfalls sind es die höheren Dienstleute, hat er kläglich gesagt, mach keinen Skandal, Medea, nur heute nicht, ich bitte dich, du weißt, was auf dem Spiel steht, das Ansehen des Königs vor all den ausländischen Gästen. Ach Jason, streng dich nicht an. Er hat noch nicht begriffen, daß König Kreon mich nicht mehr kränken kann, aber darum geht es jetzt nicht, ich muß meinen Kopf frei haben. Ich muß mir versprechen, daß ich mit keiner Menschenseele jemals über meine Entdeckung reden werde, am liebsten würde ich es so machen, wie wir es als Kinder gemacht haben, Chalkiope und ich, weißt du das, Mutter, wir wickelten unser Geheimnis fest in ein Blatt ein und aßen es auf, indem wir uns unverwandt in die Augen blickten, unsere Kindheit, nein, das ganze Kolchis war voller dunkler Geheimnisse, und als ich hier ankam, als Flüchtling in König Kreons schimmernder Stadt Korinth, da dachte ich neidvoll: Diese hier haben keine Geheimnisse. Und das glauben sie auch selbst von sich, das macht sie so überzeugend, mit jedem Blick, mit jeder ihrer maßvollen Bewegungen schärfen sie dir ein: Es gibt einen Ort auf der Welt, da kann der Mensch glücklich sein, und spät erst ging mir auf, daß sie es dir sehr übelnehmen, wenn du ihnen ihr Glück bezweifelst. Aber darum geht es doch gar nicht, was ist nur mit meinem Kopf, daß er die Gedanken in ganzen Schwärmen losläßt, warum fällt es mir so schwer, den einen Gedanken aus dem Schwarm herauszufischen, den ich brauche. Ich hatte das Glück, daß ich an der Tafel des Königs zwischen meinen Freund Leukon, den zweiten Astronomen des Königs, und Telamon zu sitzen kam, den kennst du auch, Mutter, es war derjenige der Argonauten, der zusammen mit Jason in unseren Palast kam, nachdem sie an der Küste von Kolchis gelandet waren, ich mußte mich also nicht langweilen beim Festmahl, denn Leukon ist ein kluger Mann, mit dem ich gerne rede, es ist eine Sympathie zwischen uns, und Telamon, ein wenig ungefüge, aber mir treu ergeben seit jenem ersten Nachmittag in Kolchis vor so vielen Jahren, die ich kaum zählen kann, er versucht, in meiner Gegenwart besonders witzig, auch besonders obszön zu sein, wir hatten zu lachen, und ich, entschlossen, den König von meinem minderen Platz aus zu strafen, legte das Benehmen einer Königstochter an den Tag, die ich allerdings auch bin, nicht wahr Mutter, die Tochter einer großen Königin. Es fiel mir nicht schwer, Aufmerksamkeit zu erregen und Respekt einzufordern, selbst von den fremden Gesandten aus Libyen und von den Inseln im Mittelmeer, Telamon spielte mit, wir brachten den armen Jason in die Klemme, hin und her gerissen zwischen der Botmäßigkeit gegenüber einem König, von dem wir allerdings abhängen, und seiner Eifersucht, trank er mir verstohlen zu und beschwor mich mit Blicken, meinen Übermut nicht zu weit zu treiben, aber wenn der König zu einer seiner Tiraden ansetzte, mußte er an seinen Lippen hängen. An unserem Tischende war es lustig, jetzt fällt mir alles wieder ein. Wie die beiden Männer an meiner Seite sich um mich zu streiten begannen, wie Leukon, der große, schlanke, etwas ungelenke Mensch mit dem ovalen Schädel, der wohl Spaß versteht, selbst aber keinen Spaß machen kann, dem hünenhaften, blondlockigen Telamon ernstlich meine Fähigkeiten als Heilerin anzupreisen begann, wie Telamon darauf lauthals von meinen körperlichen Vorzügen schwärmte, die braune Haut, sagte er, das Wollhaar, das wir Kolcher alle haben und das Jason gleich für mich eingenommen habe, ihn übrigens auch, aber was sei er schon gegen Jason, er wurde sentimental, wie die starken Männer es leicht werden, meine Glutaugen, sagte er, du kennst ihn ja, Mutter, immer, wenn ich ihn sehe, fällt mir ein, wie du, als er bei uns in der Tür stand, die Hand vor den Mund geschlagen und wie im Schreck Oi! gerufen hast, anerkennend, wenn ich nicht irre, und wie deine Augen dabei funkelten, und wie ich merkte, daß du noch keine alte Frau warst, und ich unwillkürlich an den sauertöpfischen, mißtrauischen Vater denken mußte. Ach, Mutter. Ich bin keine junge Frau mehr, aber wild noch immer, das sagen die Korinther, für die ist eine Frau wild, wenn sie auf ihrem Kopf besteht. Die Frauen der Korinther kommen mir vor wie sorgfältig gezähmte Haustiere, sie starren mich an wie eine fremde Erscheinung, wir drei Vergnügten an unserem Tafelende zogen alle Blicke auf uns, all die neidvollen und empörten Blicke der Hofgesellschaft und die flehenden des armen Jason, nun ja. Warum bin ich der Frau nachgegangen, der Königin, die ich, solange ich in dieser Stadt Korinth bin, kaum je zu Gesicht bekommen habe. Eingesponnen in ein dichtes Netz schauerlicher Gerüchte, zuverlässig verborgen hinter ihrer Unnahbarkeit, verbringt sie ihre Tage und Nächte im entlegensten, ältesten Teil des Palastes, in dickwandigen Kammern, die lichtarmen Höhlen gleichen sollen, eher eine Gefangene als eine Herrscherin, bedient und bewacht von zwei seltsam urtümlichen Weibern, die ihr aber auf ihre Weise treu ergeben sein sollen, ich glaube, sie kennt meinen Namen nicht, und ich hatte keinen Gedanken verschwendet an die unglückliche Königin eines Landes, das mir fremd geblieben ist und immer fremd bleiben wird. Wie mein Kopf mich schmerzt, Mutter, etwas in mir wehrt sich dagegen, noch einmal in diese Höhlen hinunterzusteigen, in die Unterwelt, in den Hades,wo gestorben und wiedergeboren wird seit alters her, wo aus dem Humus der Toten Lebendiges gebacken wird, zu den Müttern also, zur Todesgöttin, zurück. Aber was heißt da vorwärts, was zurück. Das Fieber steigt, ich mußte es tun. Ich habe diese Frau an Kreons Seite zum ersten Mal gesehen, Mutter, mit jenem Zweiten Blick, den du an mir bemerkt hast. Ich wehrte mich bis zum äußersten, bei diesem jungen Priester in die Lehre zu gehen, lieber wurde ich krank. Jetzt erinnere ich mich, das war die Krankheit, während der du mir meine Handlinien zeigtest, der Priester hat später scheußliche Verbrechen begangen, er war nicht normal, da sagtest du, das Kind hat den Zweiten Blick. Er ist mir hier fast abhanden gekommen, manchmal denke ich, die krankhafte Furcht der Korinther vor dem, was sie meine Zauberkräfte nennen, hat mir diese Fähigkeit ausgetrieben. So erschrak ich, als ich die Königin Merope sah. Daß sie wortlos neben König Kreon saß, daß sie ihn zu hassen, er sie zu fürchten schien, das konnte jeder sehen, der Augen im Kopf hatte. Ich meine etwas anderes. Ich meine, daß es auf einmal ganz still wurde. Daß jenes Flimmern vor meinen Augen erschien, das dem Zweiten Gesicht vorausgeht. Daß ich in dem riesigen Saal mit dieser Frau allein war. Da sah ich sie, ihre Aura fast vollständig verdunkelt von unstillbarem Leid, so daß mich ein Entsetzen erfaßte und ich ihr nachgehen mußte, als sie, kaum war das Mahl beendet, aufstand und ohne ein erklärendes Wort, ohne einen Gruß wenigstens für die fremden Kaufleute und Gesandten, steif in ihrem golddurchwirkten Festkleid hinausging und den König zwang, ihre Ungehörigkeit zu überspielen durch schnelleres Reden, lauteres Lachen. Von Herzen gönnte ich ihm seine Niederlage. Er muß diese Frau gezwungen haben, all diesen neugierigen eitlen Leuten ihr zerstörtes Gesicht hinzuhalten, wie mich Jason dazu gebracht hat, ihnen eine Komödie vorzuspielen. Jetzt war es genug. Wir gingen, beide aus dem gleichen Grund: Stolz. Das habe ich nie vergessen, daß du mir einmal gesagt hast, wenn sie mich umbringen würden, meinen Stolz müßten sie noch extra erschlagen. So ist es geblieben, und so soll es bleiben, und es wäre gut für meinen armen Jason, wenn er das rechtzeitig erkennen würde. Ich folgte der Frau. Der Gang, der zum Festsaal führt, wie oft bin ich ihn gegangen, als Jasons, des königlichen Neffen und Gastfreunds geachtete Frau, an seiner Seite, in Zeiten, die mir glücklich erschienen. Wie habe ich mich so täuschen können, aber nichts täuscht sicherer als Glück, und es gibt keinen Platz, der die Schärfe der Wahrnehmung so trübt wie der Platz im Gefolge des Königs. Merope war wie vom Erdboden verschluckt, es mußte einen Ausschlupf geben, ich suchte und fand ihn hinter Fellen versteckt, ich nahm eine der Fackeln aus ihrer Halterung und schlüpfte in den Gang, der bald so niedrig wurde, daß ich nur noch gebückt gehen konnte, oder habe ich das geträumt, das düstere Kellergewölbe, des Königs herrlicher lichter Palast als sein eigenes Gegenbild noch einmal in die Tiefe, ins Finstere gebaut. Die Steintreppen, Stockwerk um Stockwerk hinunter, das muß ich geträumt haben, aber die Kälte, die habe ich doch nicht geträumt, ich schlottere ja immer noch, und die Schärfe der Steine, die mir die Haut ritzten, woher sonst wären meine Arme so voller verschorfter Kratzer, und dann im letzten, tiefsten Grund, in jenem Keller, in dem sich sogar in diesem trockenen Land Wasser sammelt, der Einstieg in das Höhlengewirr, zwei Stufen nehmen und dann bäuchlings hinein, und weiterkriechen, die Fackel schützend, die nur noch flackert, nicht mehr an Merope denken, die mir voraus sein mochte oder nicht, an nichts und niemanden mehr denken, weiter müssen, immer weiter, die Höhle, zu der der Gang sich schließlich erweiterte, war mir traumbekannt, oder woher wußte ich, daß hier der Weg sich gabelte, woher wußte ich, daß ich mich links zu halten hatte, daß bald meine Fackel erlöschen würde. Sie erlosch. Dann war der Gang so eng, daß ich rückwärts hätte kriechen müssen, um hinauszukommen, mußte also weiter, wissend, es könnte mein Verderben sein, immer wieder verirrt sich jemand in unterirdischen Höhlen und kommt darin um, will ich umkommen, die Frage hat mich gestreift, ich habe den Mund verzogen und bin weitergekrochen, dann leckte ich von den Wänden sickernde Feuchtigkeit, ein geschmackloses Naß, dann spürte ich, daß die Zusammensetzung der Luft sich veränderte, dann sträubte sich mir das Haar, noch ehe ich den Ton hörte. Dann hörte ich den Ton. Er hielt länger an, als ein Mensch Atem hat, ein kaum hörbares, doch durchdringendes Winseln, das konnte auch ein Tier sein, aber es war kein Tier. Es war die Frau. Es war Merope. Ich wollte zurück, nur noch zurück, und schob mich Stück für Stück vorwärts. Der Ton brach ab, der Hammer in meiner Brust über dröhnte jeden anderen Laut, das tut er auch jetzt, hämmert bis in die Schläfen, dann sah ich, als meine Augen in der Finsternis die Richtung gefunden hatten, im matten Schein ihres Öllämpchens die Königin sitzen, steil aufgerichtet an die Felswand gelehnt, die Augen unverwandt auf einen gegenüberliegenden Punkt geheftet. Klatschnaß vor Schweiß war ich in dieser Eiseskälte, ich stank vor Grauen, das war mir noch nie passiert, in mir regte sich etwas, das ich unter…