Russendisko von W. Kaminer

Inhaltsangabe: Russendisko von Wladimir Kaminer

Inhaltsangabe: Russendisko von Wladimir Kaminer

Im autobiographischen Episodenroman „Russendisko“ von Wladimir Kaminer geht es um einen jungen Russen, der von Moskau nach Berlin zieht.
Wladimir zieht mit seinen beiden Freunden Andrej und Mischa nach Berlin. In seiner „Russendisko“ beschreibt Wladimir Kaminer in vielen einzelnen Kapiteln, die in keinem größeren Zusammenhang stehen und deshalb auch alleine stehen könnten, was ihn in Berlin erwartete. So beschreibt er unter anderem wie sie nach Berlin kamen, und dort erst einmal in ein Ausländerheim zogen. Wladimir beschreibt, wie sein Vater, der einige Zeit nach der Ankunft seines Sohns mit Wladimirs Mutter nach Deutschland kam, versuchte den Führerschein zu machen. Weiter erzählt er von „Geschäftstarnungen“, die er in Berlin aufdeckt. So findet er beispielsweise heraus, dass sich Griechen als Italiener ausgeben, um ein italienisches Restaurant betreiben zu können.

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Russendisko von W. Kaminer

Rezension: Russendisko von Wladimir Kaminer

Rezension: Russendisko von Wladimir Kaminer

Der Inhalt von Wladimir Kaminers „Russendisko“ ist oben kurz beschrieben.

Wir haben das Buch „Russendisko“ von Wladimir Kaminer im Deutschunterricht gelesen. Kaminers Buch ist eine Autobiographie, in der er sein Leben in Berlin beschreibt. Zu Anfang war ich ein bisschen misstrauisch, da ich mir unter dem Titel nicht allzu viel vorstellen konnte. Und wer hier allzu viele Informationen zur russischen Kultur erwartet, ist fehl am Platze.
Obwohl das Buch Russendisko viele meines Erachtens nach langweiligere Kapitel beinhaltet, die dafür sorgen, dass sich das Lesen vor allem am Ende sehr zieht, gibt es auch ein paar lustige Kapitel. Bei dem Kapitel „Der türkische Kater“ musste ich mehr als einmal lachen, auch das Kapitel „Mein Vater“ sorgt für einige Lacher. Die ersten beiden Kapitel Wladimir Kaminers Buch ließen sich auch ganz schön lesen: Der Erzählstil war flüssig, die Sprache ist Alltagssprache, wobei sich hier und da vulgäre Ausdrücke darunter mischten.
Da wir auch den Film zum Buch gesehen haben kann ich von meiner Seite sagen, dass das Buch, meiner Ansicht nach, vom Humor nicht an den Film herankommt, obwohl die Geschichten von Film und Buch einige Unterschiede haben.
Das ein oder andere Kapitel von Wladimir Kaminers „Russendisko“ ist durchaus lesenswert, allerdings zieht es sich stellenweise so in die Länge, dass ich es nicht noch einmal lesen würde.
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Leseprobe: Russendisko von Wladimir Kaminer

Leseprobe: Russendisko von Wladimir Kaminer

Russen in Berlin
Im Sommer 1990 breitete sich in Moskau ein Gerücht aus: Honecker nimmt Juden aus der Sowjetunion auf, als eine Art Wiedergutmachung dafür, dass die DDR sich nie an den deutschen Zahlungen für Israel beteiligte. Laut offizieller ostdeutscher Propaganda lebten alle Alt-Nazis in Westdeutschland. Die vielen Händler, die jede Woche aus Moskau nach Westberlin und zurück flogen, um ihre Import-Exportgeschäfte zu betreiben, brachten diese Nachricht in die Stadt. Es sprach sich schnell herum, alle wussten Bescheid, außer Honecker vielleicht. Normalerweise versuchten die meisten in der Sowjetunion ihre jüdischen Vorfahren zu verleugnen, nur mit einem sauberen Pass konnte man auf eine Karriere hoffen. Die Ursache dafür war nicht der Antisemitismus, sondern einfach die Tatsache, dass jeder mehr oder weniger verantwortungsvolle Posten mit einer Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei verbunden war. Und Juden hatte man ungern in der Partei. Das ganze sowjetische Volk marschierte im gleichen Rhythmus wie die Soldaten am Roten Platz – von einem Arbeitssieg zum nächsten, keiner konnte aussteigen. Es sei denn, man war Jude. Als solcher durfte man, rein theoretisch zumindest, nach Israel auswandern. Wenn das ein Jude machte, war es – fast – in Ordnung. Doch wenn ein Mitglied der Partei einen Ausreiseantrag stellte, standen die anderen Kommunisten aus seiner Einheit ziemlich dumm da.
Mein Vater, zum Beispiel, kandidierte viermal für die Partei, und jedes Mal fiel er durch. Er war zehn Jahre lang stellvertretender Leiter der Abteilung Planungswesen in einem Kleinbetrieb und träumte davon, eines Tages Leiter zu werden. Dann hätte er insgesamt 35 Rubel mehr gekriegt. Aber einen parteilosen Leiter der Abteilung Planungswesen konnte sich der Direktor nur in seinen Albträumen vorstellen. Außerdem ging es schon deshalb nicht, weil der Leiter jeden Monat über seine Arbeit auf der Parteiversammlung im Bezirkskomitee berichten musste. Wie sollte er da überhaupt reinkommen – ohne Mitgliedsausweis? Mein Vater versuchte jedes Jahr erneut in die Partei einzutreten. Er trank mit den Aktivisten literweise Wodka, schwitzte sich mit ihnen in der Sauna zu Tode, aber alles war umsonst. Jedes Jahr scheiterte sein Vorhaben an demselben Felsen: »Wir schätzen dich sehr, Viktor, du bist für immer unser dickster Freund«, sagten die Aktivisten. »Wir hätten dich auch gerne in die Partei aufgenommen. Aber du weißt doch selbst, du bist Jude und kannst jederzeit nach Israel abhauen.« »Aber das werde ich doch nie tun«, erwiderte mein Vater. »Natürlich wirst du nicht abhauen, das wissen wir alle, aber rein theoretisch gesehen wäre es doch möglich? Stell dir mal vor, wie blöde wir dann schauen.« So blieb mein Vater für immer ein Kandidat.
Die neuen Zeiten brachen an: Die Freikarte in die große weite Welt, die Einladung zu einem Neuanfang bestand nun darin, Jude zu sein. Die Juden, die früher an die Miliz Geld zahlten, um das Wort Jude aus ihrem Pass entfernen zu lassen, fingen an, für das Gegenteil Geld auszugeben. Alle Betriebe wünschten sich auf einmal einen jüdischen Direktor, nur er konnte auf der ganzen Welt Geschäfte machen. Viele Leute verschiedener Nationalität wollten plötzlich Jude werden und nach Amerika, Kanada oder Österreich auswandern. Ostdeutschland kam etwas später dazu und war so etwas wie ein Geheimtipp.
Ich bekam den Hinweis vom Onkel eines Freundes, der mit Kopiergeräten aus Westberlin handelte. Einmal besuchten wir ihn in seiner Wohnung, die wegen der baldigen Abreise der ganzen Familie nach Los Angeles schon leer geräumt war. Nur ein großer teurer Fernseher mit eingebautem Videorecorder stand noch mitten im Zimmer auf dem Boden. Der Onkel lag auf einer Matratze und sah sich Pornofilme an.
»In Ostberlin nimmt Honecker Juden auf. Für mich ist es zu spät, die Richtung zu wechseln, ich habe schon alle meine Millionen nach Amerika abtransportiert«, sagte er zu uns. »Doch ihr seid jung, habt nichts, für euch ist Deutschland genau das Richtige, da wimmelt es nur so von Pennern. Sie haben dort ein stabiles soziales System. Ein paar Jungs mehr werden da nicht groß auffallen.«
Es war eine spontane Entscheidung. Außerdem war die Emigration nach Deutschland viel leichter als nach Amerika: Die Fahrkarte kostete nur 96 Rubel, und für Ostberlin brauchte man kein Visum. Mein Freund Mischa und ich kamen im Sommer 1990 am Bahnhof Lichtenberg an. Die Aufnahme verlief damals noch sehr demokratisch. Aufgrund der Geburtsurkunde, in der schwarz auf weiß stand, dass unsere beiden Eltern Juden sind, bekamen wir eine Bescheinigung in einer extra dafür eingerichteten Westberliner Geschäftsstelle in Marienfelde. Dort stand, dass wir nun in Deutschland als Bürger jüdischer Herkunft anerkannt waren. Mit dieser Bescheinigung gingen wir dann zum ostdeutschen Polizeipräsidium am Alexanderplatz und wurden als anerkannte Juden mit einem ostdeutschen Ausweis versehen. In Marienfelde und im Polizeipräsidium Berlin Mitte lernten wir viele gleichgesinnte Russen kennen. Die Avantgarde der fünften Emigrationswelle.
Die erste Welle, das war die Weiße Garde während der Revolution und im Bürgerkrieg; die zweite Welle emigrierte zwischen 1941 und 1945; die dritte bestand aus ausgebürgerten Dissidenten ab den Sechzigerjahren; und die vierte Welle begann mit den über Wien ausreisenden Juden in den Siebzigerjahren. Die russischen Juden der fünften Welle zu Beginn der Neunzigerjahre konnte man weder durch ihren Glauben noch durch ihr Aussehen von der restlichen Bevölkerung unterscheiden. Sie konnten Christen oder Moslems oder gar Atheisten sein, blond, rot oder schwarz, mit Stups- oder Hakennase. Ihr einziges Merkmal bestand darin, dass sie laut ihres Passes Juden hießen. Es reichte, wenn einer in der Familie Jude oder Halb- oder Vierteljude war und es in Marienfelde nachweisen konnte.
Und wie bei jedem Glücksspiel war auch hier viel Betrug dabei. In dem ersten Hundert kamen alle möglichen Leute zusammen: ein Chirurg aus der Ukraine mit seiner Frau und drei Töchtern, ein Bestattungsunternehmer aus Vilna, ein alter Professor, der für die russischen Sputniks die Metall-Außenhülle zusammengerechnet hatte und das jedem erzählte, ein Opernsänger mit einer komischen Stimme, ein ehemaliger Polizist sowie eine Menge junger Leute, »Studenten« wie wir.
Man richtete für uns ein großes Ausländerheim in drei Plattenbauten von Marzahn ein, die früher der Stasi als eine Art Erholungszentrum gedient hatten. Dort durften nun wir uns bis auf weiteres erholen. Die Ersten kriegen immer das Beste. Nachdem sich Deutschland endgültig wiedervereinigt hatte, wurden die neu angekommenen Juden gleichmäßig auf alle Bundesländer verteilt. Zwischen Schwarzwald und Thüringerwald, Rostock und Mannheim. Jedes Bundesland hatte eigene Regeln für die Aufnahme.
Wir bekamen die wildesten Geschichten in unserem gemütlichen Marzahn-Wohnheim zu hören. In Köln, zum Beispiel, wurde der Rabbiner der Synagoge beauftragt, durch eine Prüfung festzustellen, wie jüdisch diese neuen Juden wirklich waren. Ohne ein von ihm unterschriebenes Zeugnis lief gar nichts. Der Rebbe befragte eine Dame, was Juden zu Ostern essen. »Gurken«, sagte die Dame, »Gurken und Osterkuchen.« »Wie kommen Sie denn auf Gurken?«, regte sich der Rebbe auf. »Ach ja, ich weiß jetzt, was Sie meinen«, strahlte die Dame, »wir Juden essen zu Ostern Matze.« »Na gut, wenn man es ganz genau nimmt, essen die Juden das ganze Jahr über Matze, und auch mal zu Ostern. Aber wissen Sie überhaupt, was Matze ist?«, fragte der Rebbe. »Aber sicher doch«, freute sich die Frau, »das sind doch diese Kekse, die nach altem Rezept aus dem Blut von Kleinkindern gebacken werden.« Der Rebbe fiel in Ohnmacht. Manchmal beschnitten sich irgendwelche Männer sogar eigenhändig, einzig und allein, um solche Fragen zu vermeiden.
Wir, als die Ersten in Berlin, hatten das alles nicht nötig. Nur ein Schwanz aus unserem Heim musste dran glauben, der von Mischa. Die jüdische Gemeinde Berlins hatte unsere Siedlung in Marzahn entdeckt und lud uns jeden Samstag zum Essen ein. Besonders viel Aufmerksamkeit bekamen die jüngeren Emigranten. Von der Außenwelt abgeschnitten und ohne Sprachkenntnisse lebten wir damals ziemlich isoliert. Die Juden aus der Gemeinde waren die Einzigen, die sich für uns interessierten. Mischa, mein neuer Freund Ilia und ich gingen jede Woche hin. Dort, am großen gedeckten Tisch, standen immer ein paar Flaschen Wodka für uns bereit. Es gab nicht viel zu essen, dafür war alles liebevoll hausgemacht.
Der Chef der Gemeinde mochte uns. Ab und zu bekamen wir von ihm hundert Mark. Er bestand darauf, dass wir ihn zu Hause besuchten. Ich habe damals das Geld nicht angenommen, weil mir bewusst war, dass es dabei nicht um reine Freundschaft ging, obwohl er und die anderen Mitglieder der Gemeinde mir sympathisch waren. Aber es handelte sich um eine religiöse Einrichtung, die auf der Suche nach neuen Mitgliedern war. Bei einer solchen Beziehung wird irgendwann eine Gegenleistung fällig. Ich blieb samstags im Heim, röstete Esskastanien im Gasherd und spielte mit den Rentnern Karten. Meine beiden Freunde gingen jedoch immer wieder zur Gemeinde hin und freuten sich über die Geschenke. Sie freundeten sich mit dem Chef an und aßen mehrmals bei ihm zu Hause Mittag. Eines Tages sagte er zu den beiden: »Ihr habt euch als gute Juden erwiesen, nun müsst ihr euch auch beschneiden lassen, dann ist alles perfekt.« »Da mache ich nicht mit«, erwiderte Ilia und ging. Der eher nachdenkliche Mischa blieb. Von Gewissensbissen geplagt, wegen des angenommenen Geldes und der Freundschaft zum Gemeindevorsitzenden musste er nun für alle unsere Sünden büßen – im jüdischen Krankenhaus von Berlin. Hinterher erzählte er uns, dass es gar nicht weh getan und angeblich sogar noch seine Manneskraft gesteigert hätte. Zwei Wochen musste er mit einem Verband herumlaufen, aus dem ein Schlauch herausguckte.
Am Ende der dritten Woche versammelte sich die Hälfte der männlichen Belegschaft unseres Heimes im Waschraum. Alle platzten vor Neugierde. Mischa präsentierte uns seinen Schwanz – er war glatt wie eine Wurst. Stolz klärte uns Mischa über den Verlauf der Operation ab: Die Vorhaut war mit Hilfe eines Laserstrahls entfernt worden, völlig schmerzlos. Doch die meisten Anwesenden waren von seinem Schwanz enttäuscht. Sie hatten mehr erwartet und rieten Mischa, das mit dem Judentum sein zu lassen, was er dann später auch tat. Manche Bewohner unseres Heims dachten, das kann alles nicht gut ausgehen und fuhren wieder nach Russland zurück.
Keiner konnte damals verstehen, wieso uns ausgerechnet die Deutschen durchfütterten. Mit den Vietnamesen zum Beispiel, deren Heim auch in Marzahn und gar nicht weit von unserem entfernt stand, war alles klar: Sie waren die Gastarbeiter des Ostens, aber die Russen? Vielleicht war es bei den ersten Juden im Polizeipräsidium am Alex nur ein Missverständnis, ein Versehen, und dann wollten die Beamten es nicht zugeben und machten brav weiter? So ähnlich wie beim Fall der Mauer? Aber wie alle Träume ging auch dieser schnell zu Ende. Nach sechs Monaten schon wurden keine Aufnahmen mehr vor Ort zugelassen. Man musste in Moskau einen Antrag stellen und erst einmal ein paar Jahre warten. Danach wurden Quoten eingeführt. Gleichzeitig wurde hinterher per Beschluss festgelegt, dass alle Juden, die bis zum 31. Dezember 1991 eingereist waren, als Flüchtlinge anerkannt werden und alle Rechte eines Bürgers genießen sollten, außer dem Recht zu wählen.
Aus diesen Juden und aus den Russlanddeutschen bestand die fünfte Welle, obwohl die Russlanddeutschen eine Geschichte für sich sind. Alle anderen Gruppierungen – die russischen Ehefrauen oder Ehemänner, die russischen Wissenschaftler, die russischen Prostituierten sowie die Stipendiaten bilden zusammen nicht einmal ein Prozent meiner hier lebenden Landsleute.
Wie viele Russen gibt es in Deutschland? Der Chef der größten russischen Zeitung in Berlin sagt, drei Millionen. Und 140000 allein in Berlin. Er ist aber nie richtig nüchtern, deswegen schenke ich ihm keinen Glauben. Er hat auch schon vor drei Jahren drei Millionen gesagt. Oder waren es damals vier? Aber es stimmt schon, die Russen sind überall. Da muss ich dem alten Redakteur Recht geben, es gibt eine Menge von uns, besonders in Berlin. Ich sehe Russen jeden Tag auf der Straße, in der U-Bahn, in der Kneipe, überall. Eine der Kassiererinnen im Supermarkt, in dem ich einkaufen gehe, ist eine Russin. Im Friseursalon ist auch eine. Ebenso die Verkäuferin im Blumenladen. Der Rechtsanwalt Grossman, auch wenn man es bei dem kaum glauben mag, ist ursprünglich aus der Sowjetunion gekommen, so wie ich vor zehn Jahren.
Gestern in der Straßenbahn unterhielten sich zwei Jungs ganz laut auf Russisch, sie dachten, keiner versteht sie. »Mit einem 200 mm-Lauf kriege ich das nicht hin. Er ist doch ständig von vielen Menschen umgeben.« »Dann solltest du einen 500er nehmen.« »Aber ich habe doch nie mit einem 500er gearbeitet!« »Gut, ich rufe morgen den Chef an und bestelle eine Gebrauchsanweisung für den 500er. Ich weiß aber nicht, wie er reagieren wird. Besser ist es, du versuchst es mit dem 200er. Man kann es doch noch einmal probieren!« Man kann.

Geschenke aus der DDR
Meine Eltern und ich lebten lange Zeit hinter dem Eisernen Vorhang. Die einzige Verbindung zum westlichen Ausland war die Fernsehsendung »Das Internationale Panorama«, die jeden Sonntag im ersten Programm gleich nach der »Stunde der Landwirtschaft« kam. Der Moderator, ein übergewichtiger und immer etwas gestresster Politologe, war schon seit Jahren in einer wichtigen Mission unterwegs: meinen Eltern und Millionen anderer Eltern den Rest der Welt zu erklären. Jede Woche bemühte er sich, alle Widersprüche des Kapitalismus in vollem Ausmaß auf dem Bildschirm zu zeigen. Doch der Mann war so dick, dass das ganze Ausland hinter ihm kaum zu sehen war.
»Dort, hinter dieser Brücke schlafen die hungrigen Arbeitslosen in alten Pappkisten, während da oben auf der Brücke, wie Sie sehen, die Reichen in großen Autos zu ihren Vergnügungsorten fahren!«, berichtete der Dicke zum Beispiel in seiner Sendung »New York – eine Stadt der Kontraste«. Wir starrten wie gebannt auf den Bildschirm: Ganz oben war ein Stück von der Brücke zu sehen und einige Autos, die sie überquerten. Das geheimnisvolle Ausland sah nicht besonders gut aus, unser Mann hatte es dort sicher nicht leicht. Aus irgendeinem Grund wollte der Politologe aber seinen Job trotz des ganzen Elends in der westlichen Welt nicht hinschmeißen und fuhr Jahr für Jahr immer wieder hin. Wenn er gerade mal arme Länder besuchte, lobte er die Werte der Kollektivität und der Solidarität. »Dort, hinter meinem Rücken«, berichtete der Dicke beispielsweise aus Afrika, »greifen die Affen die Menschen an, und die Affen sind unbesiegbar, weil sie zusammenhalten.«
Unsere Familie hatte noch eine andere halblegale Quelle, aus der die Informationen über das Leben im Ausland zu uns flossen: Onkel Andrej aus dem dritten Stock. Er war bei der Gewerkschaft eines geheimen Betriebes eine große Nummer und durfte unbeschwert zu irgendwelchen Geschäftstreffen nach Polen und sogar in die DDR fahren. Das tat er auch mindestens zweimal im Jahr. Ab und zu kam Onkel Andrej mit seiner Frau zu meinen Eltern, immer mit einer Flasche ausländischen Doppelkorns. Sie verbarrikadierten sich in der Küche, und der Nachbar erzählte, wie es im Ausland wirklich war. Die Kinder durften selbstverständlich nicht mithören. Ich war ziemlich gut mit Onkel Andrejs Sohn Igor befreundet, wir gingen in die gleiche Klasse. Igor trug lauter ausländische Sachen: El Pico Jeans, braune Turnschuhe, sogar ärmellose T-Shirts, die es bei uns nicht gab. Obwohl Igor der bestangezogene Junge in unserer Klasse war, gab er damit nicht an und war auch nicht geizig. Immer wenn ich ihn besuchte, schenkte er mir irgendeine Kleinigkeit. Bald besaß ich eine ganze Sammlung, die ich als »Geschenke aus der DDR« bezeichnete. Sie bestand aus einigen Bierdeckeln, deren Verwendung und Sinn mir vollkommen unklar war, einer Tüte Gummibärchen, einer leeren Orient Zigarettenschachtel, einer Audiokassette von ORWO, einem »Lolek und Bolek«-Kaugummi und einem Abziehbild mit mir unbekannten Comicfiguren drauf. Igor wollte später auch einmal Gewerkschaftsfunktionär werden wie sein Vater…

Quelle: http://www.ciando.com/ebook/bid-1649-russendisko/leseprobe/ 16. Juni 2013